Die innere Unruhe steigerte sich von Stunde zu Stunde – gestern noch zu Hause und heute bereits im Hotel inmitten der Kiewer Innenstadt. Mein bester Freund wünschte mir vor wenigen Stunden noch eine gute Reise und rief mir im Gehen hinterher: „Du bist doch verrückt!“ Die Anreise nach Kiew verlief problemlos. Ich hatte das Komplettpaket mit einer Abholung am Airport Boryspol gebucht und wurde im Empfangsbereich des Flughafens bereits von einem Fahrer eines privaten Taxiunternehmens mit meinem Namensschild in der Hand erwartet. Ohne große Umschweife fuhr er mich direkt zum Hotel. Nach der Nennung meines Namens an der Rezeption erhielt ich auch schon die Zimmerschlüssel und fiel sofort ins Bett. Nach einer großen Mütze voll Schlaf packte ich nur das Nötigste zusammen: wetterfeste Kleidung, einen Regenschirm und natürlich das Wichtigste – meine Kamera. Allem Anschein nach war uns das Wetter wohlgesinnt und es stand uns ein freundlicher Tag bevor. Ich hielt kurz inne: Sollte ich den Schritt durch die Tür wagen und in eine Region reisen, die noch für viele Jahrzehnte aufgrund ihrer hohen radioaktiven Belastung nicht besiedelt werden darf? Doch die Neugierde obsiegte und die Tür fiel hinter mir ins Schloss.
[Bildcollage Airport/Flug/Anreise]
[Bildcollage Kiew]
Im Morgengrauen trafen wir den Guide in der Hotellobby. Ein junger Mann Anfang 30, schätze ich. Sein Englisch ist perfekt und routiniert. Es war erst 07:30 Uhr, glücklicherweise konnte im Hotel noch schnell gefrühstückt werden. Der Kaffee war, naja, sagen wir „trinkbar“. Nach einem kurzen Kennenlernen des Guides wurden die Personalien kontrolliert und schon konnte es losgehen. Unsere Gruppe bestand aus acht Personen. Eine ideale Größe, wenn ich mir die anderen Busse vor dem Hotel ansah, deren Beklebung unverkennbar zeigte, wohin auch deren Tagesausflug führen würde. Die Stimmung im Bus war gelöst, die anderen Teilnehmer*innen stammten aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Alle einte der große Wunsch, einmal die gesperrte Zone um Tschernobyl zu besichtigen. Die Reise begann …
[Blick aus dem Hotelfenster]
[Zeitraffer]
Nach rund 20 Minuten legten wir an einer modernen und gut ausgestatteten Tankstelle einen Stopp ein. Hier trafen sich mehrere Kleinbusse mit weiteren Abenteurern. Die Guides grüßten sich und tauschten die letzten Infos aus. Wir konnten uns hier noch mit Snacks und Getränken für die anstehenden Stunden eindecken. Nach etwa 15 Minuten ging es dann auch für uns weiter. Die knapp zweistündige Fahrt wurde uns durch einen Videobeitrag über die Tschernobyl-Katastrophe verkürzt. Irgendwann schauten sich alle Teilnehmer*innen fragend an: Und da fahren wir jetzt wirklich hin? Doch es gab kein Zurück mehr und die erneuten Zweifel verflogen ebenso schnell, wie sie gekommen waren. In der Ferne sah man nun auch schon eine Straßensperre, an der bereits die ersten Busse warteten und zahlreiche Menschen draußen herumwuselten. Wir bekamen die Info, dass nun noch mal alle Papiere vom Sicherheitspersonal kontrolliert werden mussten. Die kurze Wartezeit konnte man sich bequem in zwei Souvenirverkaufscontainern vertreiben. Nach einigen Minuten erhielten wir dann einen Passierschein sowie ein einfaches Dosimeter, das von nun an ständig mit uns zu führen war. Nach der Fahrt durch die sich öffnende Schranke folgte ein weiterer kurzer Stopp, um bei Bedarf noch einmal die Toilette aufzusuchen. Beim Ein- und Aussteigen wurden wir darauf hingewiesen, sich auf jeden Fall das Kennzeichen seines Busses zu merken, da sich die Fahrzeuge oftmals ähnelten. Nun aber weiter!
[Anreise / Checkpoint]
Wir waren allesamt sehr neugierig und schauten gespannt aus den Fenstern, doch man sah nur Wald, grün bis zum Horizont. Eine nukleare Wüste hätte ich mir anders vorgestellt – grauer und karger und nicht so idyllisch und anscheinend fruchtbar. Nach einigen Kilometern hielten wir auf einem kleinen Parkplatz. Der Guide nahm uns mit zu den baulichen Überresten des einstigen Dorfes Zalissia. Die Häuser verfallen bereits seit mehr als 30 Jahren. Der Kontrast zwischen der sich immer weiter ausbreitenden Vegetation und dem einstigen Dorf war schon kurios anzusehen. Wir sahen ein Magazin, das Kulturhaus und einfache Holzhäuser. Alles ähnelte irgendwie sehr den verlassenen Kasernen und zivilen Wohnzonen, die ich von Fotoexkursionen zum Beispiel nach Beelitz oder Wünsdorf aus Deutschland kannte. Doch das große Memorial, welches an den Großen Vaterländischen Krieg (so die Bezeichnung in Russland und der Ukraine für den Zweiten Weltkrieg) erinnern sollte, wird noch immer gepflegt und instandgehalten. Nach einer halben Stunde kehrten wir zurück zum Fahrzeug. Es ging weiter. Wir passierten ein weiteres Memorial und wunderten uns kurz über eine Traube von Menschen am Wegesrand. Wir erfuhren vom Guide, dass hier die Überreste eines einstigen Kindergartens zu sehen waren. Er empfahl jedoch, so wir wollten, hier auf dem Rückweg einen Stopp einzulegen. Wenige Minuten später wussten wir auch warum. Unser Bus war der erste beim Ortseingangsschild der Stadt Tschernobyl. Wir hatten gerade unsere Bilder „im Kasten“, als der große Reisebus ankam und die Menschen sich darum drängelten, das beste Foto machen zu können. Ufff! Dank des Hinweises hatten wir nun einen kleinen Vorsprung. Im Zentrum der Stadt angekommen, besuchten wir ein Ensemble aus Denkmälern und eine der letzten erhaltenen Lenin-Statuen auf dem Gebiet der Ukraine. Von hier aus ging es zu einer Sammlung von Robotern und weiteren ferngesteuerten Fahrzeugen, die nach dem Super-GAU in der gesperrten Zone zum Einsatz kamen.
[Zalissia]
[Tschernobyl]
Nächster Stopp: Kraftwerk Tschernobyl! Auf dem Weg zu unserem nächsten Ziel hielten wir kurz direkt am Straßenrand. Denn von hier aus hatte man einen beeindruckenden Blick auf die unterschiedlichen Blöcke des Kraftwerks Tschernobyl. Da „nur“ Block 4 am 26. April 1986 havarierte, lieferten die Blöcke 1 bis 3 nach einer kurzen Unterbrechung weiterhin Strom für die Region. 1986 waren zwei weitere Blöcke (5 und 6) im Bau. Die weithin sichtbaren Baukräne stehen seitdem an Ort und Stelle. Der Bau eines Atomkraftwerks ist ein komplexes Unterfangen, der Betrieb nicht weniger. Fehler führen unweigerlich zur Katastrophe. Daran erinnert nun auch das Memorial in Sichtweite des Blocks 4. Wir stellten uns für ein schnelles Gruppenfoto auf. Nur ein Zaun trennte uns vom havarierten Block, der inzwischen mit der neuen 2016 fertiggestellten riesigen Schutzhülle überdeckt ist. Der auch als »New Safe Confinement« bezeichnete Überbau ist das größte bewegliche Bauwerk der Welt und überdeckt seitdem den rissigen und brüchigen alten „Sarkophag“. Ein mulmiges Gefühl machte sich wieder breit. Die großen Reisebusse folgten uns und gaben uns somit das Zeichen zur Weiterfahrt. In unserem Reisepreis war auch der Besuch einer Kantine im näheren Umfeld des Kraftwerks enthalten. Auch hier erinnerte alles an die vergangenen Zeiten. Wir konnten uns das Essen aus unterschiedlichen Speisen zusammenstellen. Etwas skurril, aber essbar.
[Blockansicht]
[Essen]
Gestärkt fuhren wir nun zu meinem persönlichen Highlight der Reise. Nächster Stopp: die verlassene Stadt Prypjat. Bevor wir hier einfahren durften, galt es einen weiteren Checkpoint zu passieren. Der Guide brachte kurz die Liste mit den Daten aller Teilnehmer*innen raus und schon durften wir den Schlagbaum passieren. Auch hier hatte sich die Vegetation weite Teile der Stadt zurückerobert. Bevor wir zum Riesenrad fuhren, besuchten wir den zentralen Platz mit den umliegenden Gebäuden. Durch die großen Fensterfronten konnte man hier einen unverstellten Blick in die Gebäude werfen: Einkaufswagen, Kühltruhen und eingestürzte Regale im einstigen Supermarkt. Dem gegenüber befand sich der große Kulturpalast „Energetik“ mit mehreren Sälen, einer kleinen Schwimmhalle, Freizeiträumen und einem Boxsaal sowie das Hotel „Polissya“. Wir liefen um die Gebäude herum und befanden uns direkt auf dem Freiplatz, auf dem am 1. Mai 1986 ein Rummel eröffnen sollte, doch die Havarie von Block 4 des Kraftwerks verhinderte seine Eröffnung. Das Riesenrad und weitere Fahrgeschäfte sind bildliche Ikonen, die jeder Besucher der Zone anschließend zu Hause zeigen wird. Unser Guide gab uns eine kleine Auswahl an Bauten, die wir noch ansteuern könnten, doch wir alle realisierten: Die Geisterstadt Prypjat ist riesig. Ein Besuchstag würde bei Weitem nicht ausreichen.
[Prypjat 2x]
Letzter Stopp: „Tschernobyl-2“. Nach der fast 15-minütigen Fahrt über einen holprigen Weg immer tiefer in den dichten Kiefernwald hinein verstanden wir, warum das Objekt zu einem der geheimsten Orte aus der Zeit des Kalten Krieges zählte. Ein hochmodernes Radar sollte von hier aus den Start amerikanischer Interkontinentalraketen erkennen, um so frühzeitig Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Ein ganzer Block des Kraftwerks lieferte dazu den benötigten elektrischen Strom. Wenn man vor den Überresten dieser imposanten Antennenanlage steht, versteht man auch, warum so viel Energie notwendig war. Neben dem militärischen Bereich gliederte sich ein eigens abgeschirmter Kasernenbereich und eine dazugehörige Wohnzone mit der vollständigen dazugehörigen Infrastruktur an. Eine Schule, ein Kindergarten sowie ein Kulturhaus befanden sich auch hier inmitten des Waldes. Doch die langsam einsetzende Dunkelheit verkündete das anstehende Ende dieser außergewöhnlichen Exkursion an. Wir huschten also in die letzten Gebäude und kehrten dann zurück zu unserem Bus.
[DUGA]
Mit gemischten Gefühlen und voller besonderer Eindrücke fuhren wir nun zurück nach Kiew. Ich beschloss: Ich komme wieder. Ein Teil meiner Neugierde konnte gestillt werden, doch nun hatte ich Lust auf mehr. Zu viele Geschichten warten hinter den Fenstern der Gebäude, die nicht besichtigt werden konnten. Ich bin gespannt, was meine Freunde zu Hause dazu sagen.