Eine außergewöhnliche Reise nach Transnistrien – ein Staat, der nicht anerkannt ist
Eine Reise in ein Land, das von keinem anderen UN-Staat anerkannt wird, klingt schon beim Lesen abenteuerlich. Aber lasst euch überraschen. Eine Reise nach Transnistrien oder in die Pridnestrowische Moldauische Republik (so die offizielle Bezeichnung) stellt eine der außergewöhnlichsten Reisen innerhalb Europas dar. Nach dem Völkerrecht zählt das Gebiet Pridnestrowiens – so die Kurzbezeichnung –offiziell zur Republik Moldau (die bei uns auch als Moldawien bezeichnet wird). Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlangte die bis dahin existierende Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik 1991 ihre volle Unabhängigkeit. 1992 gipfelte ein schwelender Konflikt zwischen verschiedenen Ethnien im Land im sogenannten Transnistrien-Konflikt, einem Bürgerkrieg mit über 1000 Toten. Die Kämpfe wurden erst durch das Eingreifen der auf transnistrischem Territorium stationierten russischen 14. Armee beendet. Seitdem wird die Region »selbstständig« verwaltet und der Status quo durch die weitere Stationierung regulärer russischer Streitkräfte erhalten. Es existieren eigene Grenz- und Zollstationen, eigene Polizeikräfte, eine zivile Verwaltung, Gerichtbarkeit und alles, was ein Staat noch so benötigt, bis hin zu einer eigenen Währung mit Münzen aus Kunststoff!
Die Republik Moldau zählt mit jährlich 10 000 ausländischen Touristen zu den exotischsten Reisezielen in Europa. Besucher, die auch weiter nach Transnistrien reisen, werden zwar von Jahr zu Jahr mehr, doch letztlich reden wir über wenige tausend Abenteurer.
Meine letzte Reise nach Transnistrien/Pridnestrowien startete in der Hauptstadt der Republik Moldau Chişinău und endete in der ukrainischen Metropole Odessa. Im Vorfeld hatte ich in Deutschland einen deutschsprachigen Guide für den Tag mitsamt einem Kleinbus und Fahrer organisiert. Wie abgesprochen, wurden wir im Morgengrauen aus unserem Hotel abgeholt und es ging direkt in eine recht unbekannte Ecke Europas. Nach einer knappen Stunde Fahrzeit waren wir auch schon am Checkpoint Pridnestrowiens. Wir erhielten ein Einreisevisa bzw. eine Migrationskarte und schon konnten wir in das Land, das von sonst keinem anderen regulären Land anerkannt ist, einreisen. Doch halt, irgendwas fehlt? Richtig. Eigentlich passiert man beim Übertritt von einem Land in ein anderes auch einen zweiten Checkpoint. Da die Republik Moldau den abtrünnigen Landesteil nicht anerkennt, sind wir offiziell nicht ausgereist, sondern aktuell nur eingereist. Das wird uns später noch einmal Kopfzerbrechen bereiten. Doch erst mal lenken uns die Eindrücke ab! Wir erreichen die Stadt Bender und besuchen einen Gedenkfriedhof, die imposante Festung, eine verrückte, teils verlassen scheinende Werft und fühlen uns in der Mittagspause im Bistro des dortigen Busterminals zurück in die Zeit der Sowjetunion versetzt. Nein, nicht wegen der Menschen, sondern da sich die Einrichter des kleinen Restaurants den Spaß machten, allein durch die Dekoration an die Zeit zu erinnern. Schon jetzt wird uns klar: überhaupt nicht touristenfeindlich und Fotomotive ohne Ende! Wir freuen uns, dass wir uns für zwei Nächte in Pridnestrowien entschieden haben. Wir sehen schon die Fragezeichen in den Augen unserer Bekannten in Deutschland, wenn wir Nachrichten in die Heimat senden: viele Grüße aus Pridnestrowien. Bitte woher?
Die Hauptstadt Tiraspol ist ganz anders, als wir sie uns vorgestellt hatten. Moderner und ansehnlicher als Chişinău, aber auch gespickt mit jeder Menge Propaganda. Eine Lenin-Statue hier, die Tafeln mit den Porträts der besten (Verwaltungs-)Mitarbeiter dort. Wir erhielten in den kommenden Stunden eine Kurzführung entlang aller wichtigen Bauten. Wir wussten, dass wir am kommenden Tag noch ausreichend Zeit haben werden. Der Guide und der Fahrer wurden herzlich verabschiedet und nach dem Bezug des Hotels ging es auch schon los mit dem eigenen Abenteuer durch Transnistrien. Wir hatten Denis dabei. Er lebte einige Jahre in Tiraspol und so fühlten wir uns sicher und gewappnet für den zweiten vollen Tag. Es war November 2019 und die Temperaturen waren eher frühlingshaft als herbstlich. Perfekte Ausgangsbedingungen für eine Erkundung der Stadt.
Die lokale Währung erhielten wir ganz einfach an einem der zahlreichen Automaten. Die bauliche Ausführung der Cash-/ATM-Automaten ist hier ganz besonders: Ein Sichtschutz in der Form eines Bügels schützt vor neugierigen Blicken. Die Bestellungen im abendlichen Restaurant stellten auch keine Probleme dar. Wir konnten uns entgegen den Erwartungen ganz entspannt in der Stadt bewegen. Ein Fotowalk von Monument zu Monument stellte auch nachts überhaupt keine Probleme dar. Am Abend erfuhren wir durch Zufall, dass man ganz in der Nähe eine Kaviarfabrik besuchen könne. Mit Kaviar hatten wir alle nichts im Sinn, doch ein Besuch wurde uns stark empfohlen. Denis telefonierte am frühen Morgen und schon war ein Termin organisiert. Doch erst mal hieß es: auf zu den Spuren der Jugend von Denis. Mit einem öffentlichen Bus ging es stadtauswärts: zu einer Satellitenstadt mit genormten Wohnbauten. Hier wuchs er auf, erzählte er stolz. Als Denis kurz im Hausaufgang verschwand, kamen zwei ältere Damen auf uns zu. Wo wir denn herkämen, fragten sie. »Aus Deutschland.« Wir versuchten allesamt unsere wenigen Russischkenntnisse auszukramen. »меня зовут Мартин. Я живу в Берлине.« Jetzt wurde mir schlagartig klar, warum wir damals in der Schulzeit etwa zehn russische Sätze zur Vorstellung auswendig lernen mussten. Sie könne auch Deutsch, sagte eine der beiden älteren Damen. »Hände hoch«, sagte sie und riss ihre beiden Arme nach oben und lachte dabei. Wir waren irritiert. Doch sie wiederholte nun mehrfach: »Hände hoch« und lächelte uns dabei an. Wir wurden schnell zu einer Art »Attraktion« im Innenhof der Plattenbauten. Wir waren vermutlich die ersten Touristen aus Deutschland, die sich hierher verirrten. Wir sollten weitere Damen, die etwas abseits standen, kennenlernen, doch Denis kam und gab uns ein Zeichen weiterzuziehen. Er wolle uns noch die Schule zeigen. Gesagt, getan. An der Schule angekommen, ging er schnurstracks ins Gebäude, wir sollten warten. Wenige Augenblicke später kam er mit zwei Schülerinnen heraus. Wir könnten die Schule nun geführt besichtigen. Und so spazierten wir inmitten des Schulalltags durch die Grundschule seiner Jugend. Ein spannendes Erlebnis!
Erst mal einen Kaffee und eine kurze Pause, dachten wir bei uns. Ein gemütliches Café war auch schnell gefunden. Eigentlich hätten sie noch geschlossen, aber man mache gern eine Ausnahme für uns. Wie freundlich, dachten wir allesamt. Nach einigen Minuten gesellte sich an die eingedeckte Nachbartafel eine Damenrunde, in der eine von ihnen ihren runden Geburtstag feierte. Und Schwupps hatten wir als nette Geste jeder einen Cognac vor uns stehen. Cognac stellt so was wie das Nationalgetränk in Pridnestrowien dar. Die Brennerei KVINT genießt europaweit einen erstklassigen Ruf. Die Jungs richteten sich auf einen längeren Aufenthalt ein, doch mahnend erinnerte ich: »Ihr denkt noch an die Kaviarfarm?« Eine spannende Fotosession statt Cognac mit einer Damenrunde, wenn das nicht die Prioritäten klarstellt 😉.
Das Taxi fuhr uns direkt zur Fabrik »Aquatir«. Aus Gründen der Hygiene erhielten wir jeweils einen weißen Kittel und Schuhüberzieher. Und schon tauchten wir im wahrsten Sinne des Wortes in die Aufzucht verschiedener Fischarten ein, die nur zur Gewinnung von Kaviar gehalten werden. Fische der Arten Stör, Beluga oder Sterlet zogen in großen rundlichen Becken ihre Bahnen. Zehntausende Fische! Der Kaviar wird vom lebenden Fisch »geerntet«. Er darf im Anschluss weiterleben, um so erneut Kaviar zu produzieren. Bis zu 5 Tonnen schwarzer Kaviar werden so gewonnen. Ein spannendes Prozedere. Zum Ende der Tour fand gerade eine »Ernte« statt. So was hatten wir alle noch nie gesehen, da waren die Damen und der Cognac schnell vergessen. Die Produkte seien für den russischen und europäischen Markt und auch die gesamte Technik stamme aus der EU, erzählte uns unser Guide ganz stolz.
Für das Abendessen fanden wir versteckt in einer Seitenstraße ein empfehlenswertes Restaurant, das wir alle spontan zum Lieblingsrestaurant der Stadt erklärten. Am nächsten Morgen endete unsere abenteuerliche Reise durch Pridnestrowien auch schon. Wir hatten uns im Vorfeld Fahrkarten für den Zug von Tiraspol nach Odessa besorgt. Dort sollte unsere Exkursion dann durch die Ukraine weitergehen.
Bereits am Bahnhof wurden unsere Fahrkarten kontrolliert und die Migrationskarten/Einreisebescheinigungen abgenommen. Wir dürften nun ausreisen. Na gut, dachten wir, einen Stempel im Pass für die Ausreise aus der Republik Moldau erhalten wir dann wohl an der eigentlichen, moldauisch-ukrainischen Landesgrenze. Doch weit gefehlt. Dort kontrollierten uns nur ukrainische Grenzschutzbeamte. Eine Schnellrecherche ergab, dass wir die Republik Moldau nun widerrechtlich verlassen hätten. Doch E-Mails sowohl an die Agentur, die uns den Guide und den Fahrer organisiert hatte, als auch an die Botschaft selbst ergaben, dass dies durch eine Ausreise durch den »abtrünnigen Landesteil« leider regelmäßig vorkomme und »eigentlich« keine Probleme bei der nächsten Einreise verschaffen sollte. Eigentlich? Nun ja, ich bin gespannt und werde dann vermutlich 2022 gleich hier dazu wieder berichten. Es blieben trotzdem drei spannende und außergewöhnliche Tage in einem Land, das eigentlich gar nicht existieren dürfte, die viele Vorurteile ausgeräumt haben.
Wie zu erreichen?
Tiraspol kann prima ab/an Chişinău im Rahmen einer Tagesexkursion besichtigt werden. Gern vermitteln wir dazu einen Guide und Fahrer. So ihr Tiraspol allein erkunden wollt, empfiehlt sich die Anreise mit dem Zug aus Chişinău. Achtung: Die Tickets müssen im Vorfeld besorgt werden! In der Saison verkehrt der Zug täglich (in Richtung Odessa). Vor Ort kann man sich sehr günstig mit dem Bus bewegen oder man nimmt sich ein Taxi (z. B. Yandex-Taxi App).
Auf Wunsch organisiert das Team um Martin Kaule Tages- und Mehrtagesreisen nach Tiraspol und/oder Bender beziehungsweise zu weiteren Städten in Pridnestrowien. Die Reisen starten und enden in der Regel in Chişinău (oder Odessa).
www.martin-kaule-reisen.de > Reiseprogramm
Wo übernachten?
Bei unseren Reisen haben wir stets im »Hotel Russia« inmitten Tiraspols übernachtet. Daneben gibt es auf dem Areal der inzwischen in Teilen sanierten Festung Bender das moderne Hotel-Restaurant »Alte Bastion«. Ein weiteres ansprechendes Hotel befand sich bei unserer Reise noch im Bau.
Wo essen?
Im Hotel auch das Abendessen genießen kann jeder, entlang der Hauptstraße in Tiraspol laden aber zahlreiche Hotels mit größtenteils europäischen Gerichten auf der Karte zum Essen ein. Einen Geheimtipp stellt in meinen Augen das Restaurant »Kumanek« dar.
Wie bezahlen?
In Transnistrien gibt es wie in jeder anderen Region Wechselstuben. Mit Dollars, Euro oder russischen Rubeln als Ausgangswährung solltet ihr auch eine begehrte Währung zum Wechseln in der Tasche haben. Daneben kann man an Automaten auch mit der Kreditkarte lokales Geld abheben.
Tipp: Auch wenn ihr euch am Automaten Geld besorgt, geht trotzdem in eine Wechselstube, um gegen einen überschaubaren Beitrag Münzen aus Plastik zu erwerben. Ein spannendes Mitbringsel.
Fotografierverbot?
Ich wurde nach den Reisen oft gefragt, ob das Fotografierverbot von strategisch wichtigen Einrichtungen wie Checkpoints, Brücken oder Kasernen wirklich ernst genommen wird. Die Antwort ist klar: ja, und wenn ihr kein Aufsehen erregen oder Fragen von der Polizei oder von Armeeangehörigen beantworten wollt, lasst es einfach.